Jean Gebser Gesamtausgabe Band VII

Gesamtausgabe Band VII
Gesamtausgabe Band VII

"Gesamtausgabe Band VII Gedichte Aussagen Die schlafenden Jahre Das Traumbuch", Jean Gebser, 1980, Novalis Verlag

 

Von dem Schweizer Philosophen mit deutschen Wurzeln, Jean Gebser, wollte ich schon lange etwas lesen. Vor allem interessiert er mich natürlich wegen der Namensgleichheit, obwohl ich nicht weiß, ob ich mit dem klugen Denker verwandt bin. Jean Gebser lebte von 1905 bis 1973. Sein Denken und Werk atmet den Geist des 20. Jahrhunderts, spricht uns am Anfang des 21. Jahrhunderts aber durchaus an, da die Gedanken des Verfassers zeitlos und allgemeingültig sind.

 

Die "Gesamtausgabe Band VII" umfasst die gesamte Schaffensperiode Gebsers. Sie beginnt mit einer Anzahl von Gedichten. Der Autor muss ungeheuer tätig gewesen sein. Zum Teil hat er seine eigenen Gedichte ins Spanische übersetzt; außerdem hat er eine ganze Reihe von Gedichten zeitgenössischer spanischer Dichter ins Deutsche übertragen. Daran schließt sich noch die Übertragung diverser Hölderlin-Gedichte ins Spanische an. Da hier die deutsche Version fehlt, muss man sich - bei mangelnden Spanischkenntnissen - die Mühe machen und die deutschen Originalfassungen anderweitig nachschlagen. Die Gedichte Jean Gebsers beeindrucken durch die Schönheit der Sprache, durch ihre Tiefgründigkeit und Bildhaftigkeit. Sie vermitteln im Wesentlichen, dass die materielle Welt grundsätzlich durchlässig für die transzendente Welt ist. Der Mensch ist in glücklichen Momenten dazu in der Lage, die Transzendenz wahrzunehmen. Die Natur spricht zu uns von der transzendenten Welt. Der Kosmos ist auf uns Menschen bezogen und antwortet auf uns durch allumfassende Liebe. Weiter vermittelt Jean Gebser, dass der Mensch im Leben das zugewiesen bekommt, was ihm gebührt und dass er die Folgen seines Tuns tragen muss.

 

An den Gedichtteil schließt sich ein Teil mit Notizen und Tagebuchaufzeichnungen an. Aus diesen geht im Wesentlichen hervor, dass Jean Gebser einen Sinn in allem feststellen kann; seiner Meinung nach zieht jeder Mensch sein Missgeschick selbst an sich. Dieses wird als individuelle Lernaufgabe angesehen ("förderliche Hindernisse"), die den Menschen in seiner persönlichen Entwicklung voran bringt.

 

Jean Gebser sieht die Welt derzeit in einem Wandel, einem Umbruch. Die Aufgabe des abendländischen Menschen sei die Mitarbeit an einem neuen Bewusstsein. Er spricht von einer anzustrebenden Überwindung des Ich.

 

Jean Gebser unterscheidet zwischen der Intuition, einem Verstehen auf geistiger Ebene, das - angeblich - mehr dem Mann eigen ist, und dem Instinkt, ein Verstehen auf Gefühlsebene, welches mehr der Frau eigen sein soll. Diese Unterscheidung kann ich nicht nachvollziehen; natürlich ist der Verfasser davon überzeugt, seine Erkenntnisse rein intuitiv, also geistig, erworben zu haben. Für mich hat seine Weltanschauung aber, ebenso wie eine Religion, viel mit Glauben zu tun, also der Gefühlsebene.

 

Jean Gebser ist der Schöpfer des sogenannten "integralen Bewusstseins", eines durch Vertrauen zu erlangenden Zustands der Teilhabe an der Wahrheit. Er beschreibt diesen Zustand sehr poetisch als "weißgoldenen Lichterregen".

 

Anschließend folgt ein biografischer Teil, "die schlafenden Jahre". Jean Gebser erzählt hier auf sehr offene und ehrliche Art aus seinem Leben, von der Kindheit an bis zum Verlassen des Elternhauses. Die Biografie ist leider unvollendet geblieben. Es ist erschütternd, unter welch schwierigen Bedingungen der Autor aufgewachsen ist; man kann nur staunen, was er trotzdem aus seinem Leben gemacht hat und zu welcher positiven Weltanschauung er sich durchgerungen hat. Besonders schockierend wirkt die Charakterzeichnung seiner Mutter, die ihm und der ganzen Familie schweres Leid zugefügt hat.

 

An "die schlafenden Jahre" schließt sich ein Teil mit fünf Träumen des Autors an, die er erzählt und teilweise kommentiert. Es ist faszinierend, wie genau er sich an seine Träume erinnern kann.

 

An Jean Gebser fällt der sorgfältige und präzise Umgang mit der Sprache auf. Jedes Wort ist wohlüberlegt gesetzt; es kommt häufig vor, dass die Herkunft eines Wortes genauestens analysiert wird. Ich habe es als sehr wohltuend empfunden, einen Schriftsteller zu finden, der über philosophische Themen auf allgemein verständliche Weise und, vor allem, in einer modernen Sprache spricht. Die anthropozentrische Anschauung, nach der in unserer Welt alles so sehr auf uns Menschen hin ausgerichtet sein soll, stört mich etwas, da ich sie für ein menschliches Missverständnis halte, ein Wunschdenken.

 

Jean Gebser ist ganz offensichtlich von den östlichen Weisheitslehren inspiriert, wie klar aus dem Gedanken hervorgeht, dass jeder Mensch das ihm Gebührende an sich zieht. Missgeschicke werden als förderlich für die persönliche Entwicklung angesehen. Jean Gebser hat sich in seinem Leben trotz, oder gerade wegen, der schweren Schicksalsschläge zu dieser Vorstellung durchgerungen. Trotzdem erfüllt mich diese Idee angesichts des unermesslich großen Leids in der Welt mit Skepsis.

 

Noch ein zentraler Gedanke wird immer wieder thematisiert: Die Illusion, dass in der Welt eine zeitliche Abfolge stattfindet bzw. die Illusion von Ursache und Wirkung. Jean Gebser erklärt, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vielmehr gleichzeitig sind bzw. dass es die Kausalität in Wirklichkeit nicht gibt.

 

Obwohl es mir schwer fällt, den von Jean Gebser angekündigten Umbruch in der heutigen Welt zu entdecken, spricht mich sein positives, von Sinn erfülltes Weltbild doch an, wobei ich allerdings beim besten Willen nicht imstande bin, sein "Urvertrauen" aufbringen zu können. Jean Gebser sagt (und lebt vor), dass Zuversicht erlernbar ist. Insofern hat sein Buch insgesamt eine positive und tröstliche Wirkung.

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Kommentare: 1
  • #1

    Charlotte Schlotheuber (Dienstag, 01 August 2023 12:22)

    Guten Tag,
    Das ist eine sehr schöne Zusammenfassung dieses wunderbaren Bandes. Ich würde es gerne kaufen und möchte bei Ihnen anfragen, ob das möglich ist. Im Buchhandel gibt es das nämlich leider nicht mehr und in der ZAAVB nicht einzeln.
    Über eine Nachricht freue ich mich.
    Mit freundlichem Gruß,
    Charlotte Schlotheuber