Nürnberger Tagebuch

Nürnberger Tagebuch
Nürnberger Tagebuch

"Nürnberger Tagebuch - Gespräche der Angeklagten mit dem Gerichtspsychologen", Gustave M. Gilbert, 2010, Fischer Taschenbuch Verlag

 

Das "Nürnberger Tagebuch" enthält die Aufzeichnungen des Gerichtspsychologen Gustave M. Gilbert, die er beim Nürnberger Prozess des Internationalen Militärgerichtshofes gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher des zweiten Weltkriegs gemacht hat. Dieser Prozess fand 1945/46 statt und dauerte ca. ein Jahr. Gustave M. Gilberts Aufgabe war es, Gespräche mit den Angeklagten zu führen. Dabei versuchte er, ihre Motive für ihre Taten während des Naziregimes zu ergründen. Er führte sorgfältig Protokoll über diese Gespräche. Seine Aufzeichnungen sind die Grundlage für das vorliegende, ausführliche Tagebuch.

 

Es ist ungemein faszinierend, zu erfahren, was in den Köpfen dieser größtenteils hochintelligenten Männer vorgegangen ist. Alle berichteten darüber, wie sehr sie zunächst von der Persönlichkeit Hitlers gefesselt gewesen waren. Ihre Äußerungen bestehen vor allem aus Rechtfertigungsversuchen, aus den üblichen Erklärungen, von nichts gewusst zu haben, nur Befehlen von oben gehorcht zu haben und grundsätzlich nicht antisemitisch eingestellt gewesen zu sein. Vor allem Hermann Göring, bedeutendster Gefolgsmann Hitlers, betonte immer wieder den Vorrang der absoluten Treue zum Führer. Allein Albert Speer gab die Mitverantwortung der Nazigrößen an Hitlers Taten zu.

 

Die Psychogramme dieser Männer sind außerordentlich interessant und gleichzeitig grauenerregend. Aus dem Buch geht anschaulich hervor, wie leicht es ist, ansich rechtschaffene Menschen auf einen total falschen und kriminellen Pfad zu führen und sie dazu zu veranlassen, jeglichen moralischen Anstand über Bord zu werfen. Es braucht nur eine Persönlichkeit vom Schlage eines Hitler dazu, die entschlossen und skrupellos genug ist, Millionen von Menschen bedenkenlos ins Verderben zu reißen.

 

Gustave M. Gilbert ist die Sorgfalt seiner Arbeit hoch anzurechnen. Mit Sicherheit war es nicht einfach für ihn, über so lange Zeit mit Kriegsverbrechern so persönliche Gespräche zu führen und das ganze Ausmaß ihrer Verfehlungen anhören zu müssen. Für den Leser ist dieses Dokument teilweise schwer zu ertragen, vor allem da, wo Augenzeugen zu Wort kommen und z. B. eine Massenerschießung an jüdischen Menschen beschreiben oder wie der Vorgang des Massenmordes in den Konzentrationslagern organisiert gewesen ist.

 

Gustave M. Gilbert hat ein bedeutendes Dokument hinterlassen, das für die Erhellung der Hintergründe der Nazigreuel unverzichtbar ist. Bedenkt man, wie sehr sich rechtsradikale Anschauungen auf deutschem Boden gerade wieder ausbreiten, ist das Nürnberger Tagebuch aktueller denn je. Die beunruhigende Botschaft des Buches ist: Es könnte jederzeit wieder passieren.

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