Das Buch des Vergessens

Das Buch des Vergessens
Das Buch des Vergessens

"Das Buch des Vergessens", Douwe Draaisma, 2012, Galiani Berlin

 

Warum vergisst der Mensch seine Erinnerungen? Dieser spannenden Frage geht Douwe Draaisma in seinem Buch des Vergessens nach. Anschaulich zeigt er, wie sich die Gehirnforschung Hand in Hand mit der Psychologie im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert entwickelt hat. Die große Anzahl von Fallbeispielen vermittelt dem Leser, wie empfindlich das Gehirn ist und wie anfällig für Krankheiten, die sich letztlich im Vergessen äußern. Schockierend ist, wie grob manche selbsternannten Gehirnforscher der ersten Generation mit ihren Patienten umgingen. Sie scheuten nicht davor zurück, ganze Gehirnregionen zu entfernen, um psychisch Kranke zu „heilen“. Dabei nahmen sie schwere lebenslange Schädigungen der Betroffenen billigend in Kauf und ließen sich dann auch noch als Könner ihres Fachs feiern.

 

Das Buch des Vergessens zeigt aber auch, dass Vergessen eine normale und notwendige Funktion des Gehirns ist. Es ist weder nötig noch möglich, dass alle Reize abgespeichert werden, die das Gehirn empfängt. Ein Kapitel erzählt von den ersten Erinnerungen, die Menschen haben; der Autor bedauert, dass man so vieles aus der Kindheit nicht mehr in Erinnerung rufen kann, gleichzeitig scheint dies aber eine Notwendigkeit des Gehirns zu sein und ist eine unvermeidliche Erfahrung, die keinem Menschen erspart bleibt. Die vordringlichste Aufgabe des Gehirns besteht nicht darin, angenehme Erinnerungen festzuhalten. Warum träumen wir? Auch diese Frage, und warum wir Träume so schnell vergessen, wird gestellt. Allein schon das Nachdenken über diese Fragen ist dank Douwe Draaisma ein Genuss, auch wenn keine endgültigen Antworten darauf gefunden werden können.

 

Hoch interessant ist der Exkurs des Autors zu den Themen der Porträtmalerei und der Fotografie, Erfindungen, die dem Menschen beim Erinnern an geliebte Personen helfen sollten. Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts war es eine Zeit lang gebräuchlich, Verstorbene zu fotografieren, um sie besser in Erinnerung behalten zu können. Makaber, dass man sich dabei alle Mühe gab, die Toten wie lebendig aussehen zu lassen. Douwe Draaisma stellt mehrmals fest, dass Fotos letztendlich keine besonders gute Erinnerungshilfe sind, da sie sich in der Vorstellung vor das „richtige“ Erinnerungsbild der Person schieben, die man im Gedächtnis behalten will. Das Gehirn modifiziert Erinnerungen im Lauf der Zeit, anstatt sie unverändert zu konservieren.

 

Ein anrührendes Kapitel widmet Douwe Draaisma den Abschiedsbriefen, die zum Tode Verurteilte in der Französischen Revolution an ihre Verwandten schrieben. Besonders tragisch ist, dass kein einziger dieser Briefe seine Empfänger erreicht hat. Sie wurden nicht zugestellt, sondern verschwanden in einem Archiv. Die Gemeinsamkeit all dieser Briefe ist, dass die Verurteilten großen Wert darauf legten, ihren Verwandten in guter Erinnerung zu bleiben. Der Aspekt, nach dem Tod nicht vergessen zu werden, scheint für uns sehr bedeutsam zu sein.

 

Hier werden viele faszinierende Fragen und Denkanstöße um den Themenkreis des Erinnerns, des Vergessens und der Funktionsweise des menschlichen Gehirns aufgeworfen, ohne dass der Autor dem Leser seine Ansichten aufdrängt. Ein sachliches, wissenschaftlich fundiertes, allgemein verständliches Werk, das dem Leser in guter Erinnerung bleiben wird.

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